Naher, ferner Krieg: Alltagspraktiken (post-) jugoslawischer Migrant*innen in Wien in den 1990er Jahren*

Julia Schranz

Gastarbeiterroute“ bei Niklasdorf, 80er Jahre. Foto-Archiv Kleine Zeitung. Credit: A.M. Begsteiger. Aus der Ausstellung

Gastarbeiterroute“ bei Niklasdorf, 80er Jahre. Foto-Archiv Kleine Zeitung. Credit: A.M. Begsteiger. Aus der Ausstellung "Gastarbajteri - 40 Jahre Arbeitsmigration"

 

Der Zerfall der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawiens in den 1990er Jahren, der mit Krieg, Massengewalt, Vertreibung, Flucht und Enteignung einherging, wirkte sich auch auf jene Menschen aus, die den südosteuropäischen Raum im 20. Jahrhundert aus politischen oder wirtschaftlichen Gründen verlassen und sowohl ethno-national orientierte Diasporen als auch jugoslawische Communitys in ihren neuen Aufenthaltsländern gebildet hatten. Diesen Auswirkungen der postjugoslawischen Kriege auf Migrant*innen und ihre Gemeinschaften gehe ich in meiner Dissertation am Beispiel Wien nach.
Initiative Minderheiten und Wien Museum, 2004.

Aufgrund der intensiven Verbindungen nach Jugoslawien und des Zusammenlebens in ethnisch inklusiven Räumen in Wien – so meine Annahme – erlebten (post-)jugoslawische Migrant*innen die „fernen“ Kriege als durchaus „nahe“. Ab den 1960er Jahren hatte sich eine gut vernetzte und aktive jugoslawische Community herausgebildet, die eigene Sport- und Kulturorganisationen, Lokale, Medien sowie Beratungs- und Bildungseinrichtungen in Wien hervorbrachte. Außerdem schufen jugoslawische Migrant*innen vielfältige Verbindungen zwischen ihren Herkunfts- und neuen Aufenthaltsorten, indem sie regelmäßig mit Familie und Freund*innen kommunizierten und diese besuchten, in Unternehmen und Immobilien in Jugoslawien investierten und Geld an Familienmitglieder oder Herkunftsgemeinden überwiesen sowie weitere Arbeitskräfte für ihre Arbeitgeber*innen rekrutierten. Sowohl diese grenzüberschreitende Verbindungen mit dem (post-)jugoslawischen Raum, als auch in Wien entstandene (post-)jugoslawische Räume – so meine Hypothese – veränderten sich im Kriegskontext zwar, wurden aber nicht gänzlich abgeschnitten bzw. aufgelöst.

Mein Ziel ist es anhand lebensgeschichtlicher Interviews, sowie schriftlicher und bildlicher Quellen migrantischer Initiativen und Vereine, differenzierte Einblicke in den Wandel (post-)jugoslawischer Alltagspraktiken und -räume in Wien zu erhalten und ein umfassendes Bild dieser Veränderungen zu rekonstruieren.

Mit der Erforschung transregionaler Praktiken, sowie der Transformation dieser Praktiken im Kriegskontext, hoffe ich zu einem differenzierten Verständnis von Migration und historischer Transregionalität beizutragen.

 

 

*Folgender Blog-Beitrag inspirierte mich zu diesem Arbeitstitel: Christoph Baumgarten, „Wie ein ferner naher Krieg ins Wohnzimmer kam.“ In: Balkan Stories, 20.06.2016, online unter: balkanstories.net/2016/06/20/wie-ein-ferner-naher-krieg-ins-wohnzimmer-kam/ [14.01.2022].