Futsch. Über Geschichte und Verschwinden


 

Vienna Public History Lecture I (2022)

Valentin Groebner

15. November 2022, 19 Uhr, im Großen Festsaal der Universität Wien

 

Grußwort: Christina Lutter (Dekanin)

Thematische Einführung: Marko Demantowsky

 

Historische Gebäude, Kunstwerke und Sammlungen sind im 21. Jahrhundert nirgendwo mehr lästige Überreste von früher, wie in den Modernisierungsschüben des 19. Jahrhunderts oder noch in den 1950er und 1960er Jahren. Heute werden sie als sorgfältig gehütete und mit öffentlichen wie privaten Mitteln aufwändig in Schuss erhaltene Schätze aufgefasst. Sie sind gleichzeitig unersetzliche Materialisierungen kollektiver Selbstbilder, nationales Erbe und kostbare Ressourcen touristischer Vermarktung. Deshalb müssen sie um jeden Preis erhalten werden und, falls durch einen Unglücksfall beschädigt, um jeden Preis wiederhergestellt. Die Wellen medialer Erregung über den Brand von Notre Dame de Paris 2018, der Anna Amalia-Bibliothek in Weimar 2004 oder des Theaters La Fenice in Venedig 1996 haben diese Mechanismen exemplarisch vorgeführt.
 
Zur üblichen Selbstbeschreibung des 21. Jahrhunderts als hochinnovativ und zukunftsorientiert steht diese Verlustsensibilität in einem erklärungsbedürftigen Verhältnis. Zur Geschichte ebenfalls – für die Bauherren der Renaissance und des Barock war der Abriss des Alten völlig selbstverständlich. Umgekehrt hat schon die industrielle Moderne des 19. Jahrhunderts zerstörte mittelalterliche Baudenkmäler rekonstruiert; oder durch Neues im alten Stil ersetzt.
 
Musealisierung ist die Standardprozedur des öffentlichen Umgangs mit historischen Hinterlassenschaften und gleichzeitig eine Wundertüte. Was verändert sich im Umgang mit historischer Zeit, wenn die Zeugnisse einer unwiderruflich verschwundenen Vergangenheit überall blitzblank herumstehen, authentisch und historisch, aber in bestem Zustand? Den Paradoxa einer auf unabsehbare Dauer gestellten Vergangenheit möchte ich in meinem Vortrag nachgehen. Wenn nichts mehr kaputt und verloren gehen darf, was geschieht dann mit den Dingen von früher, die in der Gegenwart ausgestellt werden? Welche Art von Geschichte zeigen Museen, und womit kontaminieren sie ihre Schätze – und ihre Besucherinnen und Besucher?

Weiterführende Literatur

  • Groebner Valentin. 2018. Retroland. Geschichtstourismus Und Die Sehnsucht Nach Dem Authentischen. Frankfurt am Main: S. Fischer.
  • Groebner Valentin. 2019. Wer Redet Von Der Reinheit? Eine Kleine Begriffsgeschichte. Wien: Passagen Verlag.
  • Groebner Valentin. 2021. Bin Ich Das? : Eine Kurze Geschichte Der Selbstauskunft Originalausgabe ed. Frankfurt am Main: S. Fischer.

Zur Person

Valentin Groebner, geboren 1962 in Wien, ist Professor für Geschichte an der Universität Luzern. Davor war er an verschiedenen akademischen Orten tätig, u.a. in Bielefeld, Florenz, Harvard und Paris. Neben seinen wissenschaftlichen Büchern hat er auch eine Reihe von Essays publiziert: Der kleine Grenzverkehr zwischen Geschichte und Gegenwart interessiert ihn dabei besonders.




Zeitverschluss | Frozen Time

Das Museum als Panikraum | Museums as Panic Rooms

 

Historische Gebäude, Kunstwerke und Sammlungen sind im 21. Jahrhundert nirgendwo mehr lästige Überreste von früher, wie in den Modernisierungsschüben des 19. Jahrhunderts oder noch in den 1950er und 1960er Jahren. Heute sind sie sorgfältig gehütete und mit hohem Aufwand in Schuss erhaltene Schätze: unersetzliche Materialisierungen kollektiver Selbstbilder, nationales Erbe und kostbare Ressourcen touristischer Vermarktung zugleich. Deshalb müssen sie um jeden Preis erhalten und, falls durch einen Unglücksfall beschädigt, um jeden Preis wiederhergestellt werden.

Zur üblichen Selbstbeschreibung des 21. Jahrhunderts als innovativ und zukunftsorientiert steht das in einem erklärungsbedürftigen Verhältnis. Diesen Paradoxa spürt Futsch nach, anhand einer Reihe von Ortsterminen in Vergangenheitsbesichtigungsinstitutionen, von Wien bis Weimar und Zürich. Historische Erinnerungsstätten und Museen können offensichtlich viele Formen annehmen, vom Tempel bis zum Supermarkt, vom Reliquienschrein bis zum Bunker. Sie sind Schutzräume, Zeitkapseln und Sanatorien, Kliniken zur Behandlung von Phantomschmerzen. Wovor versprechen sie ihren Besuchern Schutz?