Fakteneinsicht: Hilary Mantels spektakulärer Realismus


Patrick Bahners (c) Annette Hauschild/OSTKREUZ 2019

 

Vienna Public History Lecture II (2023)

Patrick Bahners

7. November 2023, 19 Uhr, im Großen Festsaal der Universität Wien

 

Grußwort: Christina Lutter (Dekanin)

Einführung: Marko Demantowsky

 

Die drei Romane von Hilary Mantel (1952-2022) über Thomas Cromwell (ca. 1485-1540), „Wolf Hall“ (2009, deutsch „Wölfe“), „Bring Up the Bodies“ (2012, „Falken“) und „The Mirror & the Light“ (2020, „Spiegel und Licht“) haben einen unwahrscheinlichen Helden: einen Bürokraten, Karrieristen und Organisator von Justizmorden. Der erste Minister König Heinrichs VIII. lieferte seinem Herrn die juristischen Gründe und die gesetzlichen Mittel für die englische Variante der Reformation: Der Staat verleibte sich die Kirche ein, indem sich der protestantisch bekehrte König seiner katholisch gebliebenen Königin entledigte.

Mantels Leser lassen sich in diese Planungen verstricken: Die Autorin zieht uns ins Vertrauen, so dass wir fast zum Komplizen Cromwells werden. Wir blicken ihm über die Schulter, glauben ihn bald besser zu kennen als sein Büropersonal ihn kennt, weil wir sogar Einblick in die Operationen des ministeriellen Gehirns erhalten. Das Thema der Romantrilogie ist, mit einem Schlagwort des 19. Jahrhunderts, die Realpolitik, die Umstellung der Herrschaft auf Diesseitigkeit, Autonomie und Flexibilität. Unerhört neuartig wirkt die Form, die Hilary Mantel für diese nicht ganz neue Geschichte vom Anfang der modernen Welt im 16. Jahrhundert findet: eine Steigerung des Realismus, die den Verdacht aus der Welt schafft, der historische Roman sei bloß ein Gedankenkonstrukt seiner eigenen Zeit und unfähig, die Sinnlichkeit der Vergangenheit heraufzubeschwören.

Ausgerechnet die Tudor-Revolution in der Staatsverwaltung, Fachhistorikern als spröder Lehrbuchstoff geläufig, erweist sich als Füllhorn der Schauwertschöpfung. Dabei lässt Mantel ihrer Phantasie nicht etwa die Zügel schießen. Im Gegenteil hält sie sich wie Thomas Cromwell so weit als irgend möglich an das Gegebene, an die Tatsachen, wie sie die historische Wissenschaft ermittelt hat. Das Staatsgeheimnis wird zur öffentlichen Sache: Der Vortrag untersucht die Methode dieser verführerischen Kulturgeschichte des Politischen und fragt nach Hilary Mantels politischer Absicht.



Weiterführende Literatur

  • Ranke, Leopold 1859 (2013): Englische Geschichte vornehmlich im sechszehnten und siebzehnten Jahrhundert. Erster Band. Darin: Zweites Buch: Versuche einer abgesonderten Consolidation des Königreichs in weltlicher und geistlicher Beziehung, S. 119–286. Berlin: Duncker und Humblot.
  • Elton, Geoffrey 1977: Thomas Cromwell Redivivus, in: Archiv für Reformationsgeschichte, Bd. 68, S. 192–208. Nachdruck: G. R. Elton, Studies in Tudor and Stuart Politics and Government, Bd. 3: Papers and Reviews 1973–1981, 1983 (online 2010), S. 373-390. Cambridge: Cambridge University Press.
  • Duffy, Eamon 2020: A People’s Tragedy. Studies in Reformation. Darin: Writing the Reformation: Fiction and Faction, S. 196–227. London: Bloomsbury.

 

Zur Person

Patrick Bahners, geboren 1967, trat nach dem Studium der Geschichte, Anglistik und Philosophie 1989 ins Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ein, wo er seit 2016 verantwortlicher Redakteur für Geisteswissenschaften ist. Er war Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin und Dahrendorf-Gastprofessor der Universität Konstanz. Neben politischen Sachbüchern (zuletzt: Die Wiederkehr. Die AfD und der neue deutsche Nationalismus, Stuttgart 2023) veröffentlichte er Aufsätze zur Geschichte der Historiographie von Tacitus bis Hans-Ulrich Wehler.