Schlüssel, Pass, Fluchtboot
Eine Handreichung zur Geschichte der Migration und Remigration
Vienna Public History Lecture III (2024)
Ursula Krechel
Dienstag, 5. November 2024, 19 Uhr, im Großen Festsaal der Universität Wien
Grußwort: Christina Lutter (Dekanin)
Einführung: Marko Demantowsky
Die politischen Notwendigkeiten zwingen förmlich dazu, neue Resonanzräume für die Auseinandersetzung mit Migration und Remigration zu öffnen. Wenn über politische Konsequenzen des Ankommens verhandelt wird, tritt die Dramatik von Flucht, Vertreibung, Exil und Asyl in den Hintergrund. Das Boot ist nicht „voll“, wie die Redensart es ausdrückt, sondern das Boot soll daran gehindert werden, den Anker zu lichten. Es soll – im übertragenden Sinn — aus seiner Historizität herausgelöst werden, mit weitreichenden Konsequenzen. Zur Zeit der großen Migration nach Amerika mahnte und ermutigte die Freiheitsstatue, Amerikaner zu werden. Daneben waltete die Einwanderungsbehörde von Ellis Island mit ihrem Schrecken.
Geschichte erzählen: Das ist eine Aufgabe, die sich Geschichtswissenschaft und Literatur teilen. Von dramatischer Bedrohung und Flucht erzählen auch die Zeugnisse der Erinnerungskultur. Kinder und Kindeskinder der Opfer forschen nach den traumatischen Umständen von Flucht, Vertreibung, Exil und den Folgen für ihre Familie. Macht das die Geschichtswissenschaft sprachlos? Was kann sie, ohne sich in der Mikrohistorie aus den Archiven zu verlieren? Von Flucht und Ankunft erzählen, heißt: sich in einen Kontext zu begeben, der in Splittern und Sprüngen die Gegenständlichkeit kollektiver und höchst subjektiver Erfahrung ordnet.
An der Nahtstelle zwischen Literatur und Geschichtswissenschaft überlappen sich Stoffe. Themen der Menschheitsgeschichte werden verhandelt im scharfen Licht der Gegenwart, die sich in jedem Augenblick verdunkeln kann. Denen, die sich auf den unwägbaren Weg gemacht haben, gebührt der Respekt der Sesshaften, die vergessen wollen, welchen Preis eine Gesellschaft zahlt, die ihre Zukunft nicht reflektiert. Idealismus, Konservatismus oder schlichtweg Heimweh: das sind die Beweggründe einer Remigration, die diesen Namen verdient. Der Vortrag untersucht Stationen, Widersprüche und Konsequenzen der Geschichte der Migration im 20. und 21. Jahrhundert.
Weiterführende Literatur
- Chartier, Roger 1994. „Zeit der Zweifel. Zum Verständnis gegenwärtiger Geschichtsschreibung“. In Geschichte schreiben in der Postmoderne: Beiträge zur aktuellen Diskussion, hg. von Christoph Conrad, 83–97. Stuttgart: Reclam.
- de Haas, Hein 2024. 22 populäre Mythen und was wirklich hinter ihnen steckt. Frankfurt am Main: S. Fischer.
- Kossert, Andreas 2020. Flucht. Eine Menschheitsgeschichte. München: Siedler.
Zur Person
Ursula Krechel schreibt Gedichte, Romane, Essays, Theaterstücke. Sie war Theaterdramaturgin und lehrte an der Universität der Künste Berlin, der Washington University in St. Louis, der Ben Gurion-Universität in Be‘er Scheva. Sie ist Mitglied der Akademie der Künste Berlin, der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung Darmstadt und der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz. Zuletzt erschien der Essayband „Gehen. Träumen. Sehen. Unter Bäumen.“ Salzburg / Wien 2022.
Ursula Krechels neuer Roman erscheint demnächst: Sehr geehrte Frau Ministerin. Stuttgart: Klett-Cotta (angekündigt für Januar 2025).