Untot und unvergangen
Der Angriff der virtual reality auf die Vergangenheit
Foto von Irmeli Jung, (C) Anne Weber
Vienna Public History Lecture IV (2025)
Anne Weber
Freitag, 31. Oktober 2025, 18 Uhr
Großer Festsaal der Universität Wien
Im Anschluss ein Apéro für alle Teilnehmenden mit Gelegenheit des Gesprächs.
Grußwort: Thomas Wallnig (Vizedekan)
Thematische Einführung: Marko Demantowsky
Über den Vortrag
Unser Verhältnis zum Tod und zur Vergangenheit ist im Begriff, sich grundsätzlich zu ändern. Bislang lebten Tote in unserer Vorstellung und in unseren Träumen fort. Von berühmten Toten aus ferneren Zeiten konnten wir uns mithilfe von Geschichtsbüchern, historischen Romanen und Porträts ein inneres Bild machen. Die Vergangenheit war für uns zweierlei: einerseits eine fremde Welt, die uns letztlich unzugänglich blieb, über die wir aber, wenn wir uns bemühten, einiges in Erfahrung zu bringen vermochten. Andererseits konnte sie — wenngleich auch hier nur, wenn wir einiges Wissen mitbrachten — mithilfe unserer Vorstellungskraft heraufbeschworen und belebt werden.
Wie aber sehen wir die Vergangenheit heute, wie werden wir sie zukünftig betrachten?
In einer virtual reality unterhält sich eine Frau per Video-Call mit ihrer kürzlich verstorbenen Großmutter; ein 2002 geborener junger Mann schlägt sich tapfer in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs. Ein anderer unterhält sich mit Napoleon und fragt ihn, was er denn von den heutigen Politikern halte. Die Vergangenheit soll ebenso wie die Toten jederzeit abrufbar sein, sie sollen unserer Gegenwart einverleibt, sollen unser augmented present, unsere erweiterte Gegenwart, unsere allen Platz einnehmende "Jetztzeit" werden. Hinter diesen immer perfekter werdenden Trugbildern stecken nicht nur merkantile Interessen, sondern auch Bemühungen, den Tod und die Vergangenheit zu leugnen, ja, sie abzuschaffen. Wohnt diesen Bestrebungen nicht ein totalitärer Gedanke inne?
Die Vergangenheit, die sich in der Literatur widerspiegelt, ist eine imaginäre, die vor jedem inneren Auge andere Züge annimmt. Sie behält eine Unschärfe, die durch die anhand weniger Anhangspunkte sich öffnende Weite des Vorstellungsspielraums entsteht. Ereignisse der Geschichte per Immersion nachzuerleben, ist hingegen reine Illusion, eine unentrinnbare Einheitswirklichkeit, eine Unterhaltungszwangsjacke.
Aktuelle Literaturhinweise
- Neumann, Andreas, und Jörg von Bilavsky, Hrsg. Geschichte vor Ort und im virtuellen Raum: Einblicke in die Arbeit an der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen. 1. Auflage 2022. ars digitalis. Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden, 2022.
- Boswell, Matthew, und Antony Rowland. Virtual Holocaust Memory. 1. Aufl. New York: Oxford University Press, 2023.
- Kuchler, Christian, und Kristopher Muckel, Hrsg. Virtual Reality: Zukunft der historischen Bildung? 1. Auflage. Historische Bildung und Public History 3. Göttingen: Wallstein Verlag, 2025.